23/2017 Familienangehöriger auf Zeit

Ein Familienangehöriger auf Zeit

Bei «Servas» treffen Menschen in aller Welt aufeinander, die Zeit und Gedanken miteinander teilen möchten – und das auch bis spät in die Nacht.

Manchmal ist es ganz einfach: Wenn man Land und Leute kennenlernen will, muss man in das Land und zu den Leuten. Eine Organisation, die noch wenig bekannt ist und das schon seit Jahrzehnten bietet, ist «Servas». Präsident der Schweizer Abteilung ist Marc Pilet. Schon 1983 entdeckte der Zolliker «Servas» für sich. Die Jahreszahl weiss er auch deswegen spontan so genau, weil er in dem Jahr geheiratet hat. Gemeinsam mit Frau Christine sollte es für neun Monate auf Weltreise gehen. Und just vor den ausgedehnten Flitterwochen entdeckte er im Tagblatt eine Anzeige der Organisation: wie gemacht für das junge Paar. Das Prinzip ist schnell erklärt: Man kann sich als Gast oder Gastgeber anmelden und wird nach einem Interview – im besten Fall – akkreditiert. «Das Besondere ist, dass man als Gast verpflichtet ist, mit dem Gastgeber zu Abend zu essen. Ob bei dem zu Hause oder im Restaurant ist dabei unwichtig», erläutert der 59-Jährige. Menschen sollen miteinander in Kontakt kommen. «Meist gibt der Gastgeber dann noch Tipps, was der Besucher sich am kommenden Tag ansehen könnte», führt Marc Pilet weiter aus. Wer also nicht mit den Marco-Polo-Insider-Tipps fremde Regionen in Massen erkunden will, könnte hier an der richtigen Adresse sein. Manchmal habe er den Eindruck, dass wir nicht in die Ferien führen, sondern auf der Flucht vor dem Alltag seien. Marc Pilet hat wenig Verständnis für die Art Ferien, wo es mit dem Flieger gen Süden geht, mit dem Bus in die Hotelanlage, wo man einfach zwei Wochen später drei Nuancen brauner wieder abgeholt wird.

Wer redet, kämpft nicht

Doch er geht noch einen Schritt weiter. Er persönlich möchte nicht nur den Alltag mit Fremden teilen, es geht ihm auch um das Bewusstsein, um das Teilen von Erfahrungen. Er möchte diskutieren, reden, philosophieren, konstruktiv streiten. Grundsätzlich versteht sich «Servas» als eine Organisation für den Weltfrieden. «Ein Weltverbesserer war ich früher. Jetzt bin ich Realist», lacht der Zolliker. Aber ernst sagt er auch: «Wer miteinander redet, kämpft nicht gegeneinander.» Seine Frau und er haben schon die unterschiedlichsten Erfahrungen auf allen Teilen der Welt gemacht. Sie waren am Plattensee bei einem Landarzt, wo sie in der Praxis geschlafen haben. Sie reisten in Japan zu einem buddhistischen Mönch, rechneten mit sehr spartanischen Verhältnissen und wurden überrascht: Der Mönch hatte einen eigenen Privattempel samt Hausangestellten. Dabei gehe es gar nicht darum, sich als Gast aufzuführen, sich bedienen zu lassen. Vielmehr sei man ein Familienangehöriger auf Zeit. Man hilft beim Tischdecken, beim Abräumen.
Marc Pilet blättert im Gastgeber-Verzeichnis der Schweiz, das ziemlich dick ist. Dort können sich Reisende ihren Host aussuchen. Vielleicht jemanden mit demselben Beruf, vielleicht jemanden mit einem ganz exotischen Beruf, jemanden, der dasselbe Hobby teilt. Einige Reisende würden ihre Routen nach den Wohnorten der Gastgeber planen, erzählt der Betriebsökonom. Das Land sei manchmal gar nicht so entscheidend. Ein bisschen erinnert das an eine moderne Kuppel-Show. Völlig wildfremde Menschen kommen zusammen. Er selber sei noch nie enttäusch worden. «Für zwei Tage halte ich es mit jedem aus», lacht Pilet wieder. Ohne Aufforderung des Gastgebers darf der Gast maximal zwei Tage bleiben. Seit einigen Jahren sind er und seine Frau auch Gastgeber. «Wir haben uns erst gescheut, dachten, dass wir ja ein Gästezimmer und eine separate Dusche anbieten müssten. Doch darum geht es nicht.» Es geht eher um einen grossen Tisch, an dem man lange sitzen, essen, trinken, reden kann. Und genau dieses Miteinander unterscheidet «Servas» von anderen Angeboten wie Couch-Surfing. Das habe nichts mit einer Geiz-ist-geil-Mentalität zu tun. «Wir verbringen Zeit miteinander und Zeit ist eigentlich die kostbarste Währung», formuliert es der Servas-Präsident. Das alles gibt es nicht kostenfrei, aber wirklich teuer ist es auch nicht. Der Gastgeber zahlt 30 Franken im Jahr und darf dafür auch als Gast frei wohnen. Gäste zahlen 80 Franken im Jahr. Überschaubare Kosten also für ein weltweites Netz mit spannenden und interessanten Gastgebern.

Die Verantwortung für das eigene Glück

Ein bisschen erinnert das Angebot an Airbnb auf Studiosus-Niveau. Die Mehrzahl der Reisenden seien schon reifere Menschen mit einem gewissen Bewusstsein. Lehrer, Therapeuten, Akademiker: Menschen, die sich gerne Gedanken machen. Menschen, denen Gerechtigkeit wichtig ist, die Umwelt, die Politik. Es seien oft Menschen, die arbeiten, um zu leben – nicht umgekehrt. Menschen, die bewusste Entscheidungen treffen. Und das heisst manchmal auch: Vertrauen haben. Wer wildfremde Menschen in sein Haus, in sein Leben einlädt, darf kein Pessimist sein. «Ich mag grundsätzlich keine Menschen, die immer vom Schlechten ausgehen, die immer nur nörgeln. Jeder trägt die Verantwortung für sein eigenes Glück in sich», unterstreicht Marc Pilet. Doch auch er – so gerne er philosophiert und diskutiert – ist nicht immer gerne unter Menschen. Schon beruflich als Versicherungsmakler und Vorsorgeberater hat er viel Kundenkontakt. Da geht er dann zum Ausgleich in die Berge. Alle Gespräche brauchen auch Zeit, um nachzuhallen. Dann wandert der Zolliker mit seinen Skis den Berg hoch, freut sich auf die spätere Abfahrt wieder ins Tal. Oder er zieht von Hütte zu Hütte und kann dort in ­aller Ruhe überlegen, welches Land, welcher Gastgeber ihn nochmals reizen würde. (bms)