19/2017 «Therapeutin» mit gekräuseltem Fell

«Therapeutin» mit gekräuseltem Fell

Der Gedanke ist da, aber das Wort fehlt. Wie Pudelhündin Nahla mithilft, dass Menschen mit Sprachstörungen die ­richtigen Worte wiederfinden.

«N-A-H-L-A.» Es fällt ihm nicht leicht. Robert Eng* blickt konzentriert zum Flipchart. Ente steht darauf, Esel, Eule, Reh, Reis, Radio. Motiviert fährt der Fünfzigjährige mit Buchstabieren fort. «Nnnn, Haaa.» Nein: «Nnnn, Aaaa, Aaaa.» Nochmals: «Nnnn, Aaaa, Haaa.» Er gibt nicht auf, bleibt dran, versucht es wieder und wieder. Es kostet ihn sichtlich Kraft, zunehmend unruhig rutscht er auf dem Stuhl hin und her, aber er bringt auf, was er an diesem Morgen braucht: Geduld. Bei Robert Eng ist die Sprache durch eine Hirnverletzung gestört. Sich mündlich in Worten oder Sätzen mitzuteilen, fällt ihm schwer, ebenso, seine ­Gedanken schriftlich festzuhalten, aber auch, gesprochene Sprache oder Gelesenes zu verstehen. Oft ist der Gedanke da, aber das Wort fehlt. «Die Bedeutungen und das Wissen sind im Gehirn zwar vorhanden, die entsprechenden Wörter können aber nicht zugeordnet und abgerufen werden», erklärt Saskia Thiem. Die akademische Sprachtherapeutin steht neben dem Flipchart und notiert, was ­Robert Eng ihr ­diktiert. Im ersten Stock der Klinik Lengg, in der Neurorehabilitation, trifft Saskia Thiem vier ihrer Patienten zur ­wöchentlichen tiergestützten Kommunikationsgruppe. Nahla begleitet sie. Auf die Pudelhündin freut sich Robert Eng ganz besonders. Ihren Namen für die anderen Patienten im Raum zu buchstabieren, ist sein erstes Ziel.

Lernen müssen an diesem Morgen nicht nur die vier Patienten, sondern auch Nahla selbst. Die Hündin ist jung, noch nicht mal ein Jahr alt. Seit letztem Sommer begleitet sie ihr Frauchen an den Arbeitsplatz in die Klinik. Anfang 2016 wurde in der Neurorehabilitation ein neues Projekt für die Logopädie ins Leben gerufen: die Erprobung eines Therapiebegleithunde-Teams. Auf den zweiten Teil des Wortes legt Saskia Thiem ganz besonderen Wert. «Der Hund alleine übernimmt keine Aufgabe», – er und die Therapeutin sind ein Team.

Auch Saskia Thiem lässt sich fortbilden. Vor anderthalb Jahren hat sie die Weiterbildung zur Fachkraft für tiergestützte Intervention begonnen. Damals noch ohne eigenen Hund, weil noch nicht klar war, ob sie einen solchen überhaupt in die Klinik mitbringen und in ihre Arbeit integrieren durfte. Von der Theorie, die sie vermittelt bekam, war Saskia Thiem beeindruckt. «Mit Tieren kann sehr vieles erreicht werden», sagt sie so überzeugt, wie sie sich auch an die ­Klinikleitung wandte, um deren Einverständnis für einen Probeeinsatz mit einer Co-Therapeutin samt Hund zu bekommen. Das Pilot-­Projekt kam an, nicht nur bei der Leitung, auch bei den Patienten. Ein Jahr später ist sie nun mit ihrem eigenen Vierbeiner unterwegs. Dass Nahla ein Pudel ist, ist kein Zufall: Die Hündin verliert keine Haare und ist somit bestens geeignet als Therapiehund in einer Klinik, da sie auch Asthmatiker keine Probleme bereitet. Aktuell befindet sich Saskia Thiem mit Nahla im praktischen Ausbildungsteil zum Therapiebegleithunde-Team und wird durch regelmässige Super­visionen begleitet. Die Prüfung zur Zertifizierung ist für Mitte 2018 vorgesehen.

Spielerisch die Worte finden

«Nahla: Such!» Erst zögerlich, dann immer bestimmter gibt Erika ­Zimmermann* eine Anweisung. Die junge Hündin soll suchen, was die Gruppe zuvor hat verschwinden lassen. Zusammen mit Saskia Thiem und einer weiteren Sprachtherapeutin haben die vier Patienten Gegenstände benannt, bei denen Futterbeutel versteckt werden können: hinter dem Schaumkissen, unter der grünen Plastikplane und zwischen den aufgestapelten Bodenmatten. Die richtigen Worte für die Gegenstände zu finden, war schwierig, die ­Motivation aber gross. Genau diese spielt in der ­tiergestützten Therapie eine wichtige Rolle. Patienten, die mit Tieren arbeiten, sind im ­Allgemeinen motivierter und konzentrierter.
Nicht mal dreissig Sekunden dauert es, bis Nahla das erste Versteck gefunden hat. «Genau wie beim letzten Mal», kommentiert Erika Zimmermann fröhlich. Die Anwesenheit des Hundes zaubert der zu Beginn der Stunde zurückhaltenden Patientin mit dem leeren Blick ein Lachen ins Gesicht. Robert Eng ruft Nahla zu sich, krault das gekräuselte hellbraune Pudelfell und öffnet den Reisverschluss des Futterbeutels. Zum Vorschein kommt neben der Belohnung für die Hündin auch ein Zettel mit dem Buchstaben A. Während Nahla zufrieden auf der grünen Matte in der Ecke des Raumes an ihrem Knochen knabbert, widmen sich die vier Patienten der neuen Aufgabe. In der letzten Therapiesitzung ging es um die Buchstaben E und R. Nun ist das A an der Reihe. Affe. Ananas. Alphabet. Ein schwieriges Wort.

Wohl aller steht im Vordergrund

Die tiergestützte Therapie baut auf drei Pfeilern auf: Mit dem Hund oder für ihn etwas machen sowie über ihn sprechen. Der Vierbeiner müsse nicht immer in direktem ­Patientenkontakt sein, und das sei zentral, gehe es doch um des ­Patienten wie des Hundes Wohl. Aus diesem Grund erhält Saskia Thiem im Moment auch Unterstützung einer anderen Berufskollegin, wenn Nahla in der Therapiestunde mit dabei ist. «So werden wir nicht nur den Patienten, sondern auch dem Hund gerecht.» Die Sprachtherapeutin achtet stark darauf, dass der jungen Hündin nicht zu viel zugemutet wird. Nicht nur, aber auch, weil sie noch so jung ist, brauche sie viel Ruhezeiten. Die Hündin kann sich jederzeit aus der Therapiesituation zurückziehen, indem sie sich in ihrer Hundebox oder auf ihrer Decke ausruht. Die Aufgabe von Saskia Thiem ist es, die Hündin gut zu beobachten und Stresszeichen richtig zu sehen und einzuordnen. Ist der Vierbeiner überfordert mit einer Situation, muss sie die Situation regulieren. Stresszeichen sind beispielsweise, wenn Nahla zu lecken oder zu bellen beginnt. «Dann weiss ich, dass sie die Aufgabe noch nicht lösen kann und wir umdisponieren müssen.» Ist dies der Fall, kümmert sich Saskia Thiem darum, dass sich die Pudelhündin zurückziehen und ­abschalten kann. Genau wie jetzt: Nahla ist immer noch mit ihrem Knochen beschäftigt, die Vierergruppe mittlerweile beim Suchen nach Tierarten unter dem Thema Haustiere angelangt. «Hund», ruft Robert Eng blitzschnell, Nahla in seinem Blickfeld. «Und was ist still und lebt im Wasser?», fragt Saskia Thiem in die Runde. Bald sind die Fische gefunden, Frösche folgen, und Erika Zimmermann erzählt, dass diese auch in einem Terrarium leben können. Ähnlich wie Schildkröten. Alle hören gespannt zu, erzählen nacheinander von eigenen Haustieren, die sie hatten oder kennen. 14 Tiere stehen am Schluss auf dem Flipchart, mehr Wörter als die Woche zuvor.

Der Hund als Eisbrecher

Er ist nicht nur Nahla zu verdanken, der Erfolg der zahlreich gefundenen Wörter und der zunehmend gesprächigen Gruppe. Sicher hat die Pudelhündin aber ihren Anteil daran. «Tiere heilen nicht per se», sagt auch Saskia Thiem, «eine tiergestützte Therapie ist keine eigenständige Therapieform, sie wird als Ergänzung bestehender Konzepte genutzt.» Das therapeutische Arbeiten mit Tieren eigne sich besonders für Patienten, bei denen herkömmliche Therapien nicht optimal greifen würden. Gerade bei schwer zugänglichen Patienten, die therapiemüde seien, nicht mehr von sich aus mitmachten und keine Störungseinsicht hätten, stelle die tiergestützte Therapie eine sinnvolle zusätzliche Behandlungsoption dar. Auch Saskia Thiem hat in den wenigen Monaten, die sie mit ihrer Hündin zusammenarbeitet, bereits einige vielversprechende Erfahrungen gemacht. So hat sich ein Patient immer wieder nach Nahla erkundigt. Er stand plötzlich in ihrem Büro, um zu fragen, wie es der Hündin gehe. «Er hat nicht wegen mir, sondern wegen ihr mitgemacht», sagt die Sprachtherapeutin. Von der positiven Wirkung eines Therapiebegleithundes ist sie überzeugt. Nahla übernehme häufig die Funktion eines Eisbrechers. Die Kontaktaufnahme mit ihren Patienten werde erleichtert, die Beziehung zu ihnen gestärkt. «Fast jeder hat einen Bezug zu, eine Erfahrung mit einem Tier», schnell werde ein gemeinsames Gesprächsthema gefunden, eine natürliche Sprechsituation geschaffen. Und genau darum geht es: Um das Zurückfinden zur Sprache, um Worte, die ohne grosse Anstrengung von der Zunge kommen, um Geschichten, die erzählt werden können.

Die Stunde der tiergestützten Therapie in der Klinik Lengg ist bald vorüber. Robert Eng streichelt noch einmal das kuschelige Fell von Nahla, die wild schwänzelnd und mit ihren treuherzigen und hellwachen rehfarbenen Augen neben ihm steht. Dann wendet er sich in die Runde und verspricht: «Nächste Woche halte ich einen Vortrag über Fledermäuse.» Das seien nämlich seine Lieblingstiere. (mmw)

*Namen der Patienten geändert.

 

Therapiebegleithund

Als Therapiebegleithund wird ein Hund bezeichnet, der mit seinem ­Besitzer regelmässig dessen therapeutische Arbeit begleitet und durch gezielten Einsatz positive Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen erzielen soll. Der Therapiebegleithund wird mit seinem Halter zusammen ausgebildet sowie geprüft und im Fall von Pudelhündin Nahla in die Arbeit ihres Frauchens Saskia Thiem integriert. Die beiden arbeiten zusammen als Therapiebegleithunde-Team.
Als Therapiebegleithund eigenen sich Hunde, die menschenbezogen und freundlich sind. Eine gewissenhafte und zuverlässige Erziehung ist essentiell. Die Beziehung zum Tier spielt dabei eine wichtige Schlüsselrolle. Die Hunde selber müssen körperlich gesund sein.
Ihre Einsätze sind zeitlich begrenzt. Tierärzte untersuchen die Hunde regelmässig nach strengen Vorgaben, weiterhin findet jährlich eine Überprüfung statt und alte Hunde werden «pensioniert».