26/2015 Motivation, nicht Förderung

Motivation, nicht Förderung

Der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo hielt am Montagabend im Gemeindesaal einen Vortrag zum Thema «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht».

«Babyjahre», «Glückliche Scheidungskinder», «Lernen geht anders» – welche Eltern oder Pädagoginnen und Pädagogen kennen diese Longseller des Fachbuchautors nicht? Der volle Gemeindesaal widerspiegelte eindrücklich das Interesse an diesen Themen. Die wenigen anwesenden Männer wurden von Remo Largo speziell begrüsst, ehe er sein Referat eröffnete, in dem er auf den Titel seiner Veranstaltung hinwies. Er erklärte, dass dieses Zitat nicht aus seiner Feder stamme, er es aber gerne verwende, weil es so deutlich aufzeige, worum es ihm gehe: «Wir würden nie am Gras ziehen, damit es schneller wächst – bei den Kindern verhalten wir uns jedoch oft genau so!» Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass wir meinen, die Kinder seien alle gleich. «Wir unternehmen unglaublich viel für diese Gleichmacherei», meint Remo Largo, «man kann es auch in einer Zahl ausdrücken: 400 Millionen Schweizer Franken werden allein im Kanton Zürich jährlich für die Sonderpädagogik ausgegeben.» Dieses Geld könnte man vielleicht besser brauchen, deshalb sei auch das Titelzitat so treffend. Ihm gehe es darum zu zeigen, dass man Kinder nicht fördern könne –weshalb versuchen wir jedoch genau dies trotzdem? Der Forscher stellte klar: «Wir müssen uns überlegen, ob Förderung nicht auch nachteilig ist.» Damit ging er dazu über, Auszüge aus der berühmten Zürcher Longitudinalstudie vorzustellen.

Die Gretchenfrage

Zwischen 800 und 1000 Kindern wurden seit 1954 untersucht, dabei wurden die Eltern bei der Geburt gefragt, ob sie mitmachen würden. Viele sagten ja – und blieben damit 20 Jahre dabei, bei mehr als 300 Familien dauerte die Teilnahme gar über zwei Generationen. Die Studie erfasste unterschiedliche Faktoren in der frühkindlichen Entwicklung. Sprache, Neuromotorik und Wachstum liessen sich gut messen. Das Sozialverhalten beispielsweise konnte jedoch nur rudimentär festgehalten werden, dazu fehlte schlicht die Methodik. Welch grosse Veränderung in der Sauberkeitserziehung mit dem Aufkommen der Wegwerfwindel ab 1960 stattfand, erklärte der Kinderarzt anhand von Diagrammen. In den 50-Jahren begann die Sauberkeitsentwicklung, damals gab es noch keine Waschmaschinen. Die Belastung für die Mütter war mit dem Windelwaschen sehr gross, die Kinder sollten so rasch als möglich trocken werden. Dann wurde die Wegwerfwindel erfunden, ein Durchbruch. Diese Erfindung hat das erzieherische Verhalten der Eltern grundlegend verändert. Heute beginnt die Sauberkeitserziehung der Eltern viel früher, aber mit welchem Ergebnis? In den 50-Jahren waren ein Drittel mit sechs Monaten, mit zwölf Monaten gar 96 Prozent aller untersuchten Kinder trocken. In den 70-Jahren hingegen war keines der Kinder mit sechs Monaten trocken. Insgesamt verschob sich das Trockenwerden der Kleinkinder um 14 Monate. Nun könne man sich die Gretchenfrage stellen und sich fragen, ob das frühere Beginnen mit der Sauberkeitserziehung etwas gebracht habe? Für Remo Largo ist klar, dass es überhaupt nichts gebracht hat – und er ergänzt: «Dies gilt nicht nur für die Sauberkeitserziehung, sondern auch fürs Lesen- oder Rechnenlernen.» Aufgabe der Eltern sei es nicht, ihr Kind frühzeitig zu trainieren, sondern das eigene Kind richtig zu lesen. Die Eltern sollen merken, wann das Kind selber bereit ist, trocken zu werden. Dies wird heute immer öfters verpasst. Die Eltern können das Kind unterstützen, zum Beispiel mit der Blasenkontrolle und die Eltern können Vorbild sein. Dies, indem beispielsweise die Türe zum WC offengelassen werde, damit das Kind realisiere, dass es nicht das einzige Wesen auf der Erde sei, das auf den Topf müsse. Die Kinder entwickelten Eigeninitiative und zeigten dies mit Mimik, Körperhaltung und Sprache. Aber auch mit einem Interesse für das Töpfchen und vor allem für das diesbezügliche Verhalten der Familienmitglieder. So werden Kleinkinder trocken. Die Dauer dieses Vorganges ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich, es nützt nichts, früher damit anzufangen oder das Kind zu drängen, das Kind wird dann trocken, wenn es selbst so weit ist.

Das Vorbild sozialisiert

Eines habe ihn immer wieder besonders fasziniert, erzählt der Fachbuchautor: «Beobachtet man die Kinder beim Spielen, so sieht man ein Abbild der Erziehung der Eltern. Sie ahmen die Eltern exakt nach.» Entscheidend bei der Erziehung ist das Verhalten der Erwachsenen. Der Erziehungsstil der Eltern entscheidet über das Selbstwertgefühl der Kinder. Traditionell und fremdbestimmt erzogene Kinder weisen meist ein sehr niedriges Selbstwertgefühl auf. Mit einer kindorientierten und selbstbestimmten Erziehung wird das Selbstwertgefühl gestärkt, die Kinder erhalten eine gute Selbstwirksamkeit. «Und das ist doch das, was wir alle wollen?,» fragt der Referent sein Publikum. Unsere Gesellschaft mache einen grossen Fehler, indem sie das Selbstwertgefühl der Kinder sehr oft von ihrer Leistung abhängig mache. Doch nicht die Leistung selber solle zählen, sondern der Weg dorthin. «Das ist eben die Krux von heute», erklärt er, der selber Vater von drei Töchtern und Grossvater ist, «wir meinen, wir müssten unseren Kindern alles beibringen – und uns das auch noch 400 Millionen kosten lassen. Fakt ist aber: Es nützt nichts!» Es sei ein verrücktes System, das heute vorherrsche. Es gibt inzwischen mehr Kinder, die Förder- und Stützmassnamen bekommen als Kinder, die keine Massnahmen erhalten.

Wie lernen Kinder?

Die Spiele der Kinder sind immer sinnvoll, jedes Spiel hat einen Sinn. «Wir Erwachsenen sind vielleicht einfach nicht in der Lage, den Sinn zu verstehen», schmunzelt Remo Largo. Wir haben eine Kultur entwickelt, die sich sehr weit von den Kindern entfernt hat. Aber wie lernen Kinder überhaupt? Man solle den Kinder Gelegenheit geben, so spielen zu können, wie sie es möchten. «Nehmen wir die Farben zum Beispiel. Wir meinen, wir müssten den Kindern die Farben mit den zugehörigen Namen beibringen. Aber das ist ein Irrtum, sie lernen nach ihrer eigenen Wahrnehmung – dies ist ja nicht nur im Kleinkind- oder Schulalter so, Lernen funktioniert zeit unseres Lebens so. Wir wollen das einfach nicht glauben und machen uns das Leben damit selbst schwer.» Die Entwicklungsaufgabe der Eltern ist, sich an der Individualität des Kindes zu orientieren. Die Eltern sollen das Verhalten des Kindes lesen, sich auf seine Bedürfnisse einstellen und das Kind in seinem Bestreben nach Selbstständigkeit unterstützen. Das Kind soll Erfolgserlebnisse haben, dies führt zu gutem Selbstwertgefühl. So kann es seine Stärken und seine eigenen Lernstrategien entwickeln. «Wir müssen die Kinder dort abholen, wo sie sind und nicht dort hinbringen, wo wir sie haben möchten. (ft)