51/2014 Immer in Bewegung

Immer in Bewegung

Obwohl Ueli Ruckstuhl sein ganzes Leben in Zollikon verbracht hat, war und ist er oft und gerne unterwegs. Am liebsten aus eigener Kraft.

Wie hat sich die Welt doch verändert in all den Jahren seit 1926, als Ueli Ruckstuhl als mittleres von drei Kindern an der Sägegasse 9 zur Welt kam. Oft brachte er auf dem Schulweg dem Bäcker Ruoff im Kleindorf Öpfelschnitze und ein Glas Guss vorbei, um dann auf dem Heimweg gleich die fertige Wähe zum Mittagessen abzuholen. Sechs Bäckereien gab es damals noch alleine im Dorf. Dass man zu Hause mithalf, war selbstverständlich. Immer gab es etwas zu tun, im Garten oder dann ging es mit dem Leiterwagen hinauf in den Wald, um Tannzapfen und Holz zu suchen, um im Winter genug zum Anfeuern des Kachelofens zu haben. Oder an die Holzgant, an der man mit dem Förster durch den Wald ging und jeder mitbieten konnte, bis er seine Ration für den Winter beisammen hatte. Doch bei aller Arbeit blieb auch Zeit für Spass und Spiel. Für die Seebadi, die für Schulkinder im Sommer zwischen vier und sechs Uhr nachmittags gratis war, oder den Turnverein.

Die Schulzeit beendete Ueli Ruckstuhl mitten im Krieg. Erst hätte er Elektriker werden sollen, doch da gab es keine Lehrstellen. So ging er erst ein halbes Jahr als Laufbursche für alles in die Briefumschlagfabrik Gössler in die Stadt hinunter und begann dann eine Schlosserlehre bei Schüpbach. Das entsprach ihm, er bewegte sich gerne, arbeitete gerne mit Geschick und Muskelkraft.

Rösti und Wienerli für einszwanzig

Nach der Lehre fand der junge Berufsmann Arbeit bei Lerch und Wolfermann an der Ottenbachstrasse zwischen Lindenhof und Bahnhofstrasse. «Zum Mittagessen ging ich damals ins Warenhaus Brand (heutiger Manor), da gab es für einen Franken zwanzig eine gute Portion Rösti mit einem Paar Wienerli dazu.» Gutes Essen war ihm immer schon wichtig. Auch als er später zur Maag Zahnräder AG wechselte.

Und der Sport. Heute schaut er ihn gerne am Fernsehen. Doch 1948 war er mit seinem Bruder live an der Olympiade in St. Moritz dabei. «Wir hatten uns Ski gemietet in einer Zolliker Schreinerei“, sagt er und seine Augen funkeln noch heute, „dann sind wir mit dem Zug hingefahren. Wir sahen, wie der Wengener Karl Molitor den Slalom gewann und auch wie die als Aussenseiterin angetretene Hedy Schlunegger in der Abfahrt trotz Sturz siegte!»

In die Stadt fuhr er mit dem Velo – und zum Glück noch immer jeden Morgen an einer der sechs Backstuben vorbei. Bei Wohlgemuth im Gstad diesmal. Denn da arbeitete die junge Bernerin Margrit Witschi als Hausangestellte, die ihm auf Anhieb aufgefallen war, als er sie erstmals abends nach dem Turnverein in der Dorfbeiz antraf, wo sich Damenriege und Männerturnverein nach getaner sportlicher Tätigkeit trafen. Auch ihr gefiel der stramme Sportskerl und so läuteten bald schon die Hochzeitsglocken.

«Kaum waren wir verlobt», erzählt Ueli Ruckstuhl, «kam unsere Nachbarin und fragte mich, ob ich nicht die kleine Zweizimmerwohnung an der Sägegasse mieten möchte. Ich könne sie für 60 Franken haben, wenn ich einverstanden wäre, den Mietvertrag für 55 Franken zu unterschreiben und ihr die 5 zusätzlichen Franken jeweils heimlich als Sackgeld zuzustecken.» Das machten sie dann so, bis sie später an die Alte Landstrasse 100 umzogen, wo es zwar teurer war – 140 Franken, ohne Warmwasser und mit Ofenheizung – doch eben auch grösser und Platz bot für die kleine Familie, zu der bald schon das Töchterchen Vreneli und der Sohn Ueli gehörten. Das Familienglück und die gute Kochkunst von Margrit brachten Ueli Ruckstuhl dazu, in der Mittagszeit vom Escherwyssplatz her schnell heim zu radeln, um mit seiner Familie das Mittagessen einzunehmen, bevor er um halb zwei wieder in der Fabrik sein musste.

Seine Muskeln waren stählern. Doch die Schichtarbeit in der Fabrik setzte ihm zu. Als ihn ein Feuerwehrkollege fragte, ob er nicht Lust habe, in die Gemeindewerke zu wechseln, packte er diese Chance und arbeitete da bis zu seiner Pensionierung als Gas- und Wassermonteur.

Pedalen aus Freude

Das Velofahren aber vermisste er. So kam es vor, dass er sich ab und zu über Mittag zu Hause abmeldete, hinunter an den See fuhr, in den Mönchhof hinüber schwamm, da eine Wurst und ein Bier zu sich nahm, zurückschwamm und pünktlich nachmittags wieder an der Arbeit war. Oder dass er an einem schönen Tag seine Überzeit einzog und los fuhr, dem See entlang, das Linthtal hinauf, über den Klausen und weiter über die Axenstrasse und den Sattel wieder Zollikon zu, um beim Abendessen wieder daheim zu sein. «Auch Margrit war sportlich», sagt er, «an Sonntagen packten wir zuweilen beide Kinder hinten ins Velositzli und fuhren an den Zugersee zum Schwager.» So an die drei- bis viertausend Velokilometer hatte Ueli Ruckstuhl damals jährlich in den Beinen.

Im Winter wurde Ski gefahren. Sonntags konnte man damals noch für 8 Franken mit dem Bus vom Opernhaus nach Amden fahren – und da war die Tageskarte für den Skilift bereits inbegriffen.

1966 zog die Familie in ein Haus der Neuen Baugenossenschaft im Breitacker. Das war ein Fest: Viereinhalb grosse, helle Zimmer im obersten Stock, Zentralheizung, warmes Wasser und eine gute Waschmaschine!

Lange hatte Ueli Ruckstuhl eine gute Zeit. Sie waren eine zufriedene Familie. Aus seiner Zeit als Feuerwehrmann, Seeretter, Seniorenfussballer, Turner und Tambour bei der Zolliker Harmonie und Gemeindearbeiter hatten sie ein grosses Beziehungsnetz und fühlten sich in Zollikon stets geborgen. Ach, so hätte es immer weiter gehen können!

Doch 1990 begann eine düstere Zeit. Margrit fand plötzlich den Heimweg nicht mehr. Sie war an Alzheimer erkrankt. Ueli Ruckstuhl pflegte und behütete sie. „Man sagt nicht umsonst, dass Alzheimer eine Partnerkrankheit ist“, sagt er traurig, „sie macht wirklich auch den pflegenden Partner krank.“ Als es zu Hause nicht mehr ging, brach es ihm fast das Herz. Bis zu ihrem Tod 1995 besuchte er sie täglich und freute sich an den kleinsten Zeichen von Freude, auch als sie ihn längst nicht mehr erkannte.

Aus der Not heraus zum Meister geworden

«Damals lernte ich zu kochen und zu backen», sagt er, «ich mochte die Fertigmenus und auch den Mahlzeitendienst auf die Länge nicht wirklich.» Seine Tochter schenkte ihm ein Kochbuch, sein Sohn verhalf ihm zu seiner Sammlung von Gugelhopfformen aller Art, und er stürzte sich in seine neue Leidenschaft – als Bäcker von Zopf, Brot, Rüeblitorten und Gugelhöpfen brachte er es zur wahren Meisterschaft.  «So konnte ich wieder Freunde einladen und wenn ich zu Besuch ging, meinen Anteil mitbringen», sagt er, «das war mir ein grosses Vergnügen.»

Vor einem Jahr nun ist er ins Beugi gezogen. «Das war nicht so einfach», sagt er, «doch das Treppensteigen machte mir je länger je mehr grosse Mühe, es ist nun gut so und ich bin auch froh darüber.»

2009 hatte er einen Hirnschlag. Glück im Unglück, gerade als er auf Besuch bei einem Kollegen im Altersheim weilte. So bekam er rasch Hilfe. Eine Woche blieb er im Spital, dann durfte er wieder nach Hause. Dass er jahrelang intensiv Sport getrieben hatte, zahlte sich nun aus. Trotzdem wäre es ohne Hilfe seines Bruders Max, der in der Nachbarschaft wohnt, kaum möglich gewesen, noch fünf weitere Jahre alleine zu haushalten. Sein Bruder half, wo er konnte, und fuhr manchen Taxidienst zum Arzt und in die Therapie. Er war es auch, der sah, wie beschwerlich das Treppensteigen wurde und dafür sorgte, dass Ueli Ruckstuhl im Beugi ein Zimmer bekam.

Da wohnt er nun seit einem guten Jahr. Nun fährt er vom obersten Stock im Beugi per Lift hinunter und macht sich auf seine tägliche Spazierrunde beim Schüpbach vorbei rund um den Pausenplatz. Er ist ein Bewegungsmensch geblieben. «Wir wohnen ja eigentlich im Paradies», sagt er, «wenn ich darüber nachdenke, was alles auf der Welt geschieht, bin ich dankbar, dass ich in Zollikon geboren wurde.» (db)