Der Armut kräftig in die Suppe spucken
Chantal Senft spaziert gerne auf der Zolliker Allmend. Nicht nur wegen der Aussicht und der guten Luft. Hier hat sie vor zehn Jahren ihre Berufung entdeckt, in die sie seither ihr ganzes berufliche Know-how ehrenamtlich einsetzt: die tatkräftige, direkte Hilfe gegen die Armut in der Schweiz.
Knapp zehn Jahre ist es her, als Chantal Senft-Boissonnas auf einem Hundespaziergang auf der Allmend erstmals von der «Schweizer Tafel» hörte. Kurze Zeit später war sie Präsidentin des Vereins Schweizer Tafel Fundraising. Die Idee der «Schweizer Tafel» hatte ihr sogleich eingeleuchtet: Die Organisation hilft durch ihre Arbeit direkt und praktisch den benachteiligten und bedürftigen Menschen in der Schweiz. In elf Regionen werden überschüssige, einwandfreie Lebensmittel bei Grossverteilern, Produzenten und Detaillisten abgeholt und gratis an soziale Institutionen verteilt, die sich um armutsbetroffene und beeinträchtigte Menschen kümmern.
Um die Infrastrukturen für diese Sammel- und Verteilaktion täglich zu gewährleisten, sucht der Fundraising-Verein Mitglieder und Gönner, führt Spendenaktionen durch und verhilft mit Networking und Vorträgen die Arbeit der «Schweizer Tafel» bekannt zu machen. Das war eine Arbeit, die Chantal Senft professionell beherrschte. Hier würde sie diese sinnvoll einsetzen können. Und sie machte sich gleich an die Arbeit, steckte in den letzten zehn Jahren bis an die 40 Prozent einer Vollzeitstelle in ihr Ehrenamt. Gratis und franko, doch mit vollem Engagement.
Warum sie das macht? Weil sie selbst im Paradies wohnt, ihre Töchter in Zollikon aufwachsen, sie hier als Familie ein Zuhause aufbauen durften.
Ein Flair für Haute Couture
Chantal Senft ist als gebürtige Genferin in Basel aufgewachsen. Bis zur Schule konnte sie kein Wort deutsch, doch sie lernte schnell. Zwischen Matura und Studium an der Hochschule St. Gallen verbrachte sie ein Jahr in Genf und machte dort eine Ausbildung zur Modellistin. Schon früher hatte sie gerne mit Textilien gearbeitet, sich ihre Kleider selbst genäht. «Heute lohnt sich das nicht mehr», sagt sie, «denn man findet problemlos perfekt geschnittene Kleider zu moderaten Preisen.»
Ihr aber hat die Ausbildung zur Modellistin mehr als elegante Kleider gebracht. Nach dem Studium fand sie eine Stelle in der Haute Couture. Kurze Zeit später reiste sie für die St. Galler Firma Jakob Schläpfer nach Amerika, um in New York und Los Angeles mitzuhelfen, Tochterfirma und Kundennetz aufzubauen. Es war eine aufregende und arbeitsintensive Zeit. Doch dann zog sie die Liebe zurück in die Schweiz. An einer Hochzeit von Freunden hatte sie ihren heutigen Mann kennengelernt, zog alsbald zu ihm nach Zürich, wechselte von der Haute Couture erst in eine Unternehmungsberatung, später zu einem weltweit tätigen Vermittler von Führungskräften.
Als ihre Töchter geboren wurden, 1991 und 1992, trat sie beruflich kürzer. Und merkte dann nach ein paar Jahren, dass sie als Teilzeit-Berufstätige nicht mehr die gleich spannende Arbeit hatte, gleichzeitig aber auch zu Hause bei ihren Töchtern viel verpasste. «So fragte ich sie eines Abends, wie sie es finden würden, wenn ich Vollzeitehefrau und -mutter würde», lacht sie. Die Begeisterung innerhalb der Familie war so gross, dass sie gleich am nächsten Tag ihre Kündigung einreichte.
Dass sich das neue Ehrenamt beim Verein Schweizer Tafel Fundraising dann als recht arbeitsintensiv erwies, war kein Problem. Im Gegenteil. Die Töchter waren schon grösser und genossen es, eine engagierte Mutter zu haben. Und lernten selbst viel dabei.
Dank Professionalität ist jeder Franken gut eingesetzt
Chantal Senft ist sehr zufrieden. Innerhalb der letzten zehn Jahre, in denen sie als Präsidentin des Fundraising-Vereins amtet, hat sich die «Schweizer Tafel» als Organisation weiter entwickelt. Wurde damals bereits aus einem Spenderfranken eine Hilfe im Wert von 7 Franken generiert, sind es heute 21 Franken. Und nicht nur das: Die Schweizer sind heute viel stärker auf das Thema Armut sensibilisiert.
Persönlich hält sie seither auch an Schulen Vorträge zum Thema Armut in der Schweiz.
«Es ist erstaunlich, wie sehr sich das Vorurteil aufrecht erhält, von Armut seien in der Schweiz vor allem Ausländer betroffen», sagt sie, «dem ist nicht so. Es betrifft Leute mit schlechter Ausbildung, Alleinerziehende, ältere Leute, und Grossfamilien mit vier und mehr Kindern. Es betrifft heute in unserem Land jede siebte Person!»
Nächsten Donnerstag wird der Suppentag der «Schweizer Tafel» bereits zum elften Mal durchgeführt. Wie vor elf Jahren wird auch dieses Jahr Jacky Donatz am Paradeplatz Suppe kochen. Diesmal aber nicht mehr wie beim ersten Mal hinten am Brunnen, sondern vorne an einem prominenten, gut sichtbaren Platz, wie nun bereits seit einigen Jahren. Jeder wird wie immer eine Suppe bekommen, der Preis ist offen – man gibt so viel, wie man will. Man bekommt den Teller Suppe auch gratis, wenn man ihn sich nicht leisten kann.
Das Ziel des Suppentags ist, einerseits durch diese und andere Spenden die Infrastruktur zur reibungs- und geldlosen Sammel- und Neuverteilaktion zu finanzieren – und andererseits den vielen Suppenlöfflern zu unerwarteten Begegnungen zu verhelfen.
«Das Schlimmste an der Armut – und nochmals, arm ist heute jeder siebte Schweizer – ist die Einsamkeit», sagt Chantal Senft, «zusammen essen öffnet die Herzen, löst die Zungen und schafft Verständnis.» (db)
Inos zur Schweizer Tafel gibt es unter: www.schweizertafel.ch