Bis zur Erschöpfung: Burn-out als gesellschaftliches Phänomen
Sich Sorge tragen, nachsichtig sein und sich Zeit für sich nehmen: Selbstfürsorge ist der Schlüssel gegen Burn-out. Letzte Woche lud der Verein «Kind und Kunst» im Gemeindesaal zu einem Fachvortrag zum Thema «Selbstfürsorge statt Burnout». Dabei wurde auch erklärt, was Burnout mit Kreativität und Kindern im Sinai zu tun hat.
Der Job sorgt für Stress, die Familie braucht Zeit. Hundert Dinge müssen gleichzeitig erledigt werden. Das Gefühl der Überforderung breitet sich aus. «Das schaffe ich!», überzeugt man sich selbst. Der innere Perfektionismus und das Streben nach Erfolg feuert an und setzt noch mehr unter Druck. Man engagiert sich weiter, der Stresslevel steigt: bis zur Erschöpfung. Der Zynismus wächst, die Leistungsfähigkeit sinkt. Man fühlt sich abgestumpft, ausgebrannt und körperlich und emotional entkräftet.
«Burn-out ist nicht ein Problem einzelner Betroffener», betont der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Michael Pfaff im Gemeindesaal vor 30 Personen, «es wird zunehmend zu einem gesellschaftlichen Phänomen.» Die Zahl der Diagnosen steigt rasant. Der Alterspeak liegt zwischen 40 und 55 Jahren. Mehr Frauen als Männer sind betroffen.
Michael Pfaff, leitender Arzt in der Privatklinik Hohenegg in Meilen, beschäftigt sich seit drei Jahren intensiv mit Phänomen und Patienten. In seinem Referat geht er auf die Geschichte dieses Phänomens ein, stellt die Symptome vor und erzählt von Burn-out als Stresserkrankung. «Bis heute werden über hundert Symptome mit Burnout verbunden», erklärt Pfaff. «Es gibt keinen verbindlichen Katalog dazu.» Als Hauptmerkmale werden oft emotionale Erschöpfung, reduzierte Leistungsfähigkeit und Depersonalisierung genannt. Doch diese Symptome treten nicht von heute auf morgen ein. «Burn-out ist ein Prozess. Es entwickelt sich über verschiedene Stadien», erzählt der Arzt. Die Weltgesundheitsbehörde erkennt Burn-out nicht als Krankheit an, sondern als Problem der Lebensbewältigung. «Nicht alle in einem Burn-out sind krank. Aber alle sind krankheitsgefährdet», erklärt Pfaff den Unterschied.
Mut zum Selbstsein
Persönliche, gesellschaftliche und arbeitsbezogene Faktoren können zum Gefühl des Ausgebranntseins führen. Dass die Zahl der Diagnosen in der heutigen Zeit steigt, ist für Pfaff kein Zufall. Individualisierung, Mediatisierung, Leistungs- und Erfolgsdruck, die globale Vernetzung und das Drängen auf Flexibilität können Menschen belasten. «Ein Grundphänomen ist, dass wir heute mehr denn je gefordert sind, unsere eigene Identität zu schaffen.» Früher sei vieles durch die Tradition vorgegeben gewesen. Der Sohn übernahm den Betrieb des Vaters, der Weg war vorgezeichnet. «Heute liegt das in der Selbstverantwortung eines jeden.» Nicht nur ist die Schaffung der Identität eine Herausforderung; in der heutigen «narzisstischen Gesellschaft», so Pfaff, wird das Bild einer Person wichtiger gewertet als die Person selbst: «Narziss, die Figur aus der griechischen Mythologie, hat sich in sein Selbstbild verliebt. Das Problem ist: Ich liebe ein Bild von mir, aber nicht mich selbst.» In der «Gesellschaft der Selbstverliebten» liebe und sehe man nur die glänzende Seite, so der Facharzt.
Selbstfürsorge und Selbstliebe heisst der Schlüssel zur Besserung. «Selbstfürsorge entsteht durch den Mut zum Selbstsein», erklärt er: Nachsichtig mit sich sein, sich auf sich selbst besinnen, Selbstmitgefühl haben, auf sich acht geben und sich selbst – und nicht einem Bild – begegnen, nennt er als Stichworte der Selbstfürsorge.
Kreativitätsförderung
Was das Thema Burn-out mit dem Verein «Kind und Kunst» zu tun hat, wurde schnell geklärt. Michael Pfaff ist Vorstandsmitglied des Vereins, der seit Jahren Kinder auf der ägyptischen Halbinsel Sinai durch wöchentliche Workshops in ihrer Kreativität fördert. Und Kreativität spielt auch eine Rolle beim Burn-out. Deren Förderung in der Kindheit kann ein Mittel gegen ein späteres Burn-out sein, da sie eine Grundlage für die Selbstfürsorge schafft. Dies betont auch die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lisa Pecho, welche den Verein ebenfalls begleitet, in ihrem kurzen Nachwort. «Kreativität betrifft alle Lebenslagen», erklärt sie und fügt hinzu: «Es bedeutet auch ein ‹bei mir selbst sein›, Achtsamkeit zu üben und die eigenen Fähigkeiten besser wahrzunehmen.» Kindern im Sinai wird die Chance gegeben, sich mit sich selbst zu beschäftigen und der inneren Welt Ausdruck zu verleihen. Und dies ist auch für Erwachsene ein Weg zur Selbstfürsorge. (sab)