Im Banne der Orgelmusik
Oren Kirschenbaum, seit fünf Jahren Organist der evangelischen Kirche Zollikon, muss gehen, weil seine Arbeitsbewilligung nicht verlängert wurde. Bei seinem Abschiedskonzert letzten Sonntag überraschten ihn die Zolliker mit einer vollen Kirche und einer Standing Ovation. Wer ist Oren Kirschenbaum?
Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs sind für Oren Kirschenbaum das Grösste überhaupt. Als er zum ersten Mal Bach hörte, musste er aus tiefstem Herzen weinen, so sehr ergriffen ihn die Klänge. Dabei war er gerade erst fünf geworden. Sein Vater hatte ihm die Musikkassette geschenkt.
Doch natürlich war das Geschenk kein Zufall. Die Musik liegt in der Familie. Oren Kirschenbaums Familie väterlicherseits stammt aus Berlin. Seine Grossmutter war da Pianistin und hat Abend für Abend Stummfilme live auf dem Flügel begleitet, bis die NSDAP 1933 an die Macht kam. Sein Vater, 1925 geboren – Oren ist sein jüngstes Kind aus zweiter Ehe – überlebte zusammen mit seinem Bruder und floh über Wien und Sloweniennach Italien und von da in die Schweiz. Nach einem Aufenthalt im Sortierungslager in Rothrist besuchte er in Vevey eine Landwirtschaftsschule. Nach Kriegsende reiste er von Barcelona aus mit dem Schiff nach Israel.
«Auf der ganzen Reise», erzählt Oren Kirschenbaum, «wurden die Kinder in allen Fächern unterrichtet. Und da war der russische Pianist Boris Jochwedsson, der die Liebe meines Vaters zur Musik so sehr zu prägen vermochte, dass er sich, sobald es seine finanziellen Mittel in Israel zuliessen, mit Langspielplatten eindeckte und sich ein Klavier kaufte.»
In seiner neuen Heimat arbeitete Oren Kirschenbaums Vater als Garten-Architekt, doch die Musik blieb seine Leidenschaft, die er in seine Familie trug. Als Oren fünf war, begann sein älterer Bruder auf Wunsch des Vaters mit dem Klavierunterricht. Seine Begeisterung hielt sich aber in Grenzen, er mochte nicht üben. Doch Oren war fasziniert. «Ich erinnere mich nicht genau», sagt er, «doch erzählt man mir, ich sei plötzlich am Klavier gesessen und hätte die Stücke meines Bruders nach Gehör gespielt.»
Keine Lust auf Unterricht
Gerne hätten ihn seine Eltern gefördert und in den Klavierunterricht geschickt. Doch das wollte er nicht und setzte sich durch. «Ich hatte keine Lust auf Lehrer», sagt er, «ich wollte einfach für mich spielen und improvisieren.» So war er immer. Und ist es noch. Er macht nur, was er will. Als er dann mit neun Jahren doch mit dem Klavierunterricht begann, gab es oft Probleme: Er wollte nicht bei einfachen Stücken beginnen und immer Schwierigeres lernen, sondern nur spielen, was ihm gefiel, egal, wie leicht oder schwierig das war. Und Noten interessierten ihn lange ganz und gar nicht «Erst als ich merkte, dass ich ohne Noten die Werke von Bach nicht richtig übers Gehör erfassen konnte, war ich motiviert, mir diese nun anzueignen.» So war er stets ein guter, doch für seine Umwelt auch ein schwieriger Schüler. Stets wollte er selbst bestimmen, wie sein Weg aussieht und sich nichts aufzwingen lassen. Er konnte es sich erlauben. Er war gut.
Nach dem Musikgymnasium in Tel Aviv rief das Militär. Da muss jeder gesunde, junge Israeli für drei Jahre hin, ohne Ausnahme. Doch für gute Musiker gibt es einen Sonderstatus: Bestehen sie die geforderte Prüfung, bekommen sie einen militärischen Halbtages-Bürojob, der ihnen genug Zeit lässt, die erworbenen instrumentalen Fertigkeiten beizubehalten. Es war für ihn keine Frage, dass er diese bestehen würde. Und nachher in Tel Aviv Musik studieren würde.
Das tat er. Und zwar auf sein Gesuch hin Orgel im Hauptfach – mit der Sondergenehmigung des obersten Musikdirektors und gegen alle Usancen. Oren Kirschenbaum dankte es ihm, in dem er sein Bachelor-Studium mit «summa cum laude» abschloss.
Für das Aufbaustudium kam er im August 2006 nach Basel, an die Schola Cantorum Basiliensis. Inzwischen hat er auch sein Masterstudium mit Auszeichnung abgeschlossen. Zurzeit macht er an der Zürcher Hochschule der Künste seinen zweiten Master als Tonmeister. Drei Stipendien haben ihn während seiner Ausbildung unterstützt, doch hat er nebenbei stets auch gearbeitet – seit fünf Jahren an einer Fünfzigprozentstelle als Organist in Zollikon.
Zollikon war ein Glücksfall
Die Arbeit war bereichernd, sie machte Spass. Gerne erlaubte ihm die Kirchenpflege, seine Mitstudierenden für einen Solopart in der Kirche mitzubringen. Und dass die Orgel-Renovation ausgerechnet in seine Zeit fiel, war für ihn ein Glück. Die Kirchenpflege hätte sich dazu wohl kaum einen leidenschaftlicheren Orgelspezialisten erträumen können. «Dem liturgischen Orgelspiel gehört mein Herz», sagt Oren Kirschenbaum, «es erstaunt mich nicht, dass ich Organist geworden bin, denn dabei kann ich genau so improvisieren, wie ich es als Kind so gerne getan habe.»
Damit ist nun trotz gegenseitigem Bedauern Schluss. Als Israeli, einem sogenannten Drittländer, war es für ihn nie einfach mit der Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Während die Basler Behörden ihm seinen Nebenjob früher gerade noch als legal durchliessen, taxierten die Zürcher Behörden diesen als widerrechtlich ein. Zu viele Arbeitsstunden für einen Studenten, zu wenige Arbeitsstunden als Nichtstudierender!
Einmal hatten ihm die Behörden seine Bewilligung für seinen studentischen Nebenjob verlängert, doch ein zweites Mal ging das nun nicht mehr. Noch macht er sich nicht zu viele Sorgen. Seine Ersparnisse ermöglichen es ihm, sein Studium als Tonmeister in Zürich zu vollenden. Jobs bis zu 15 Stunden pro Woche sind ihm auch noch erlaubt. Vielleicht kann er sich noch etwas dazu verdienen. Er braucht nicht viel. Dann wird er weitersehen.
«Nach Irsrael zurück zu gehen ist keine Option» sagt er bestimmt, «nun bin ich schon zweiunddreissig. Es wird bald Zeit, mir ernsthaft Gedanken über die Zukunft zu machen und – so hoffe ich – eine Familie zu gründen. Dafür ist Israel zu unsicher, zu teuer, politisch nicht auf meiner Linie und auch kulturell für mich wenig vielversprechend.»
«Es ist ein trauriger Abschied», sagte Oren Kirschenbaum nach dem letzten Stück des Abschiedskonzertes, „«doch die letzten Töne sollen fröhlich sein.» Und er spielte als erste Zugabe die Militär-Polonaise Frédéric Chopins und zauberte den Zuhörern damit ein Schmunzeln auf die Gesichter, denn sie spürten: «Nein, um Oren Kirschenbaum müssen wir uns trotz des unfreiwilligen Abschieds keine Sorgen machen. Er wird die Zukunft packen!» (db)