«Ich war schon immer ein Mondlander»
Musiker, Lehrer, Forscher, Familienvater und Bandmitglied – Andreas Cincera hat in seinem Leben bereits auf vielen Hochzeiten gleichzeitig getanzt. Mit Erfolg. Zwischen zwei Unterrichtsstunden am Zürcher Konservatorium gewährt er Einblick in seinen spannenden Alltag und seine Vergangenheit.
Die Fähigkeit, sich auf etwas einzulassen, war ihm schon immer gegeben. Andreas Cincera wurde nachgesagt, er vergesse ständig die Zeit. Deswegen hängt in seinem Unterrichtsraum stets eine grosse Uhr an der Wand. Ein Träumer mit schlechtem Zeitgefühl. Diese Beschreibung kauft man seinen gutmütigen Augen sofort ab. Ein Musiker eben.
Der Schritt in die Musikerwelt war für den Zolliker jedoch nicht immer klar gewesen, denn klein Andreas hatte sich in seiner Jugend an den Wissenschaftlern orientiert. Bereits in der fünften Klasse studierte er Chemiebücher, im Gymnasium durfte er sogar seine eigene Klasse unterrichten, da die Lehrer nichts mehr mit ihm anzustellen wussten. Seine Eltern mussten gegen ihre Prinzipien einen Fernseher anschaffen, um ihrem Sohn die Mitverfolgung der ersten Mondlandung zu ermöglichen. Aber auch wenn der Weg in die Wissenschaft so «ring» gefallen wäre, Andreas Cincera entschied sich für die Musik.
Schon als junger Lehrer öffnete Andreas Cincera neue Zugänge zur Musik, indem er 1984 an der Musikschule Zollikon den Unterricht im Kinderbass als schweizweit erster Lehrer anbot. Noch unterrichtet er mit viel Freude. Dabei kann er auch den häufig älteren Studierenden ganz besondere Qualitäten mitgeben: «Sie schätzen, dass ich mit ihnen immer wieder auf die Grundfragen der Musik zurückkomme. Welche Wirkung hat zum Beispiel der erste Ton der Tonleiter und welche der zweite?» Diese Art von Lehren sollen die Lernenden dazu ermutigen, ihren eigenen Massstab und eine verinnerlichte musikalische Ausdruckskraft zu entwickeln, um sich von perfekten Musikaufnahmen auf Youtube nicht entmutigen zu lassen, und schliesslich auch, um dem Konkurrenzdruck standzuhalten. Auf seine Anfänge in der Zolliker Musikschule folgten viele Projekte als Solist, Kleinkammermusiker und sogar den Schritt auf die Theaterbühne wagte er. So wurden er und sein Duopartner, der Akkordeonist Oleg Lips, über die Jahre ein eingespieltes Team. Zusammen mit einem Schauspieler zogen sie mit einem Stück von Anton Tschechov immer mal wieder durch die ganze Schweiz. Dabei verinnerlichte Andreas Cincera seine grösste Begabung – die Improvisation. «Das Schönste an einem eingespielten Team sind die variantenreichen Auftritte. Kein Auftritt kann identisch reproduziert werden. Ein Orchester der Tonhalle bringt diesen vergänglichen Charakterzug nicht mit sich.»
Wissenschaftler bleibt Wissenschaftler
Des Musikers Herausforderung liege in der Auslebung seiner vielfältigen Tätigkeiten, meint der 54-Jährige. Dabei scheinen ihm die Übergänge von der einen in die andere Kompetenz so leicht zu gelingen wie eine sanfte Melodie. Den Blick stets nach vorne gerichtet, entwickelt er sich auch heute noch weiter. Letztes Jahr schloss er in Würzburg eine zweite Ausbildung in Beratung und einer Methode von Kurzzeittherapie ab. Nun leitet er verschiedene Kurse an Hochschulen, um Gesprächsführung und den verbesserten Umgang mit Menschen zu fördern sowie Lernende darin zu unterstützen, ein Gleichgewicht zwischen Eigenmass und Fremdmass zu finden. Ausserdem wurde Andreas Cincera ermuntert und eingeladen, mittels Fortführung seiner Unterrichtsforschung zu promovieren, was den Übergang ins Akademische bedeuten könnte. Da wacht der Wissenschaftshunger wieder auf. «An der Musik interessiert mich auch der kognitive Teil. Wie zum Beispiel funktioniert musikalischer Ausdruck? Daran forsche ich gerade.» Es zieht ihn dort hin, wo die Herausforderung wartet, Gebiete die noch unerforscht sind. «Ich war schon immer ein Mondlander.»
Auf die Suche nach neuem Terrain macht sich auch das Ensemble «Tritonus», dem Andreas Cincera vor ein paar Jahren beigetreten ist. Die Band hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wurzeln der Schweizer Volksmusik wieder zum Leben zu erwecken, etwa in der Form, wie sie trotz dem Musikverbot zur Zeit Zwinglis existiert hatte. Die neue CD von «Tritonus» mit dem Titel «Musica Dorma» wird auf Schweizer Stücken beruhen, welche bis jetzt noch in den Tiefen der Archive verstaut waren.
Andreas Cincera – ein immerzu bewegendes Molekül, welchem der Mut zu neuen Taten nicht fehlt. Auch wenn er noch nicht genau weiss, an welches Ziel sein aktueller Berufsfeldwechsel ihn bringen wird – eins ist klar: Schwerpunkte zu setzen wird immer eine Herausforderung sein. Energieressourcen müssen in Zukunft gebündelt werden. Wo lohnt es sich wirklich, hundertfünfzig Prozent Energie einzusetzen? Da werden Pionierarbeiten zukünftig den Kleinkunstprojekten und dem Unterrichten weichen müssen. «Wenn ich meine Energie bündeln muss, dann da, wo eine Mondlandung Sinn machen würde.» (aw)
Das ausfürliche Porträt über Andreas Cincera finden Sie im aktuellen «Zolliker Bote» vom 24. Januar 2014.