«Mitbetroffen sein ist kein Einzelschicksal»
Der Zolliker Jörg Weisshaupt ist in seinem Beruf oft mit der Ohnmacht von Hinterbliebenen nach einem Suizid konfrontiert. Nun hat er ein Buch herausgegeben, in dem Betroffene ihre Situation in Worte fassen. Es soll dazu beitragen, das Thema aus der Verschwiegenheit herauszuholen.
«Darüber reden», sagt Jörg Weisshaupt, «ist das Wesentlichste.» «Darüber reden» heisst auch das Buch, welches er dieses Jahr im Rahmen seiner Arbeit in der Suizidpostvention herausgegeben hat. Suizidpostvention bedeutet Nachsorge und wendet sich an alle, die in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld einen Menschen durch Selbsttötung verloren haben.
Die statistischen Zahlen zeigen: In der Schweiz bringen sich täglich drei bis vier Menschen um, 1300 Menschen im letzten Jahr, davon wählten 300 eine assistierte Sterbehilfe. Dazu kommen jährlich 20’000 Menschen, die einen Suizidversuch überleben. Sie alle haben Angehörige, Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen, die mit der suizidalen Handlung konfrontiert wurden oder fortan damit leben müssen, dass sie jemanden kannten, der sich das Leben nahm. Das ist eine Bürde, die keiner einfach weglegen kann. Die Frage, die, je näher man diesen Menschen gekannt hat, desto schwerer wiegt: Warum? – Warum gab es keinen andern Weg? Warum hat er oder sie sich, mir und uns dies antun müssen? «Mitbetroffen sein ist kein Einzelschicksal», sagt Jörg Weisshaupt, «und jedes Jahr kommen an die zehntausend Suizid-Mitbetroffene dazu.»
Bewusst ist dies Jörg Weisshaupt durch seine Arbeit geworden. Als Jugendbeauftragter der evangelischen Kirche der Stadt Zürich betreut er die SMS-Seelsorge. Auffällig viele Anrufe betrafen das Thema aus der Situation von Mitbetroffenen. Die Suizidnachsorge ist für Jörg Weisshaupt ein grosses Anliegen geworden. «Es ist wichtig, dass man sich Hilfe von aussen holt», sagt er, «Suizid ist ein Tabuthema, es ist schwierig, darüber zu reden – doch man muss es tun, um weiterleben zu können.» Als Jugendbeauftragter hat er die Gruppe «Nebelmeer.net ‒ Perspektiven nach Suizid» ins Leben gerufen. Hier treffen Jugendliche, die einen Elternteil verloren haben, Gleichaltrige, die ähnliche Erlebnisse zu verarbeiten haben. Für Erwachsene bietet sich der Verein Refugium, speziell für Eltern der Verein Regenbogen an.
Schreiben wie Lesen hilft
Die Idee zum Buch kam Jörg Weisshaupt über Texte, die Hinterbliebene individuell und in den geführten Selbsthilfegruppen verfasst hatten. «Schreiben ist eine gute Therapiemöglichkeit», sagt Jörg Weisshaupt, «viele dieser Texte gehen aber darüber hinaus» Als ihn eine Frau gebeten habe, ihre Texte doch mal zu lesen, hätten diese ihn tief ergriffen. Es sei ihm bewusst geworden, dass sie ihm als Nichtbetroffenem einen objektiven Zugang ermöglichten, so wie es in einem Gespräch nicht gleich möglich wäre. Und so hat er das Buchprojekt unter den Betroffenen bekannt gemacht und sie motiviert, Texte zum Gemeinschaftswerk beizutragen. Das war nicht einfach. «Es fiel manchen schwer, die persönlichen Texte – hinter denen eine immense Trauerarbeit steckt – zur Verfügung zu stellen», sagt Jörg Weisshaupt, «einzig der Gedanke, es könne doch hilfreich für andere sein, liess sie einwilligen.»
Noch schwieriger war die Suche nach Geldgebern für den Buchdruck. Postvention ist (noch) kein Thema. «Das Geld fliesst – wenn überhaupt ‒ eher in die Prävention“, sagt Jörg Weisshaupt. Doch er liess sich nicht beirren, es war ihm zu wichtig, er blieb beharrlich und war erfolgreich: Die reformierte Kirche Zürich finanziert das Buchprojekt zum grössten Teil. (db)
Lesen Sie das ausführliche Porträt über Jörg Weisshaupt im aktuellen «Zolliker Bote» vom 1. November 2013.